LIEBE DEN FEIND
Es regnete.

Es regnete schon den ganzen verdammten Tag. Dies war wirklich einer dieser Tage, an denen es ohne ein erkennbares Ende durchregnen konnte und es schien fast schon so, als wollte die schwere Decke von grauen Regenwolken das ganze Land ertränken.

Der Soldat wusch sich mit der linken Hand das Wasser aus dem Gesicht und bewegte sich weiter durch die herabstürzende Sintflut. Er kam nur schwer voran, denn jeder seiner Schritte versank im matschigen Boden und machte das Gehen zur Tortur.

Zu Beginn des Tages sah das Land noch ganz anders aus; meterhohe Feuersäulen und brennende Häuser bestimmten ein Bild des Grauens und des Krieges.

Aber schließlich befand sich das Land auch im Krieg.

Die menschenähnlichen Rulusianer führten schon seit Monaten einen erbitterten Kampf gegen die geflügelten, drachenähnlichen Ichiak aus dem Norden. Ein Kampf, dessen Ursprung und Ursache keine der beiden Rassen mehr nachvollziehen konnte. Es war Krieg – und im Krieg wurde gekämpft. Nur das war beiden Völkern klar!

Der Soldat warf den Kopf nach hinten und suchte die Gegend ab. Er hatte den Kontakt zu seiner Einheit schon vor Stunden verloren und in diesem dichten Qualm – verursacht durch den Regen, der die brennenden Dörfer inzwischen gelöscht hatte – konnte man ohnehin nichts mehr sehen.

Der Mann schmunzelte. Seine Einheit hatte gute Arbeit geleistet. Sie hatten erfolgreich ein Dorf der Ichiak überfallen, die Bewohner schnell und effektiv getötet und das Dorf anschließend in Brand gesteckt. Jetzt galt es nur noch ein paar flüchtige Ichiak zu finden und auszulöschen.

Diese Aufgabe sollte eigentlich nicht so schwer sein, dachte der Soldat, denn immerhin hatte er einen fliehenden Ichiak mit seiner Armbrust erwischt. Es war ein Meisterschuss gewesen, denn er hatte das Wesen im Flug getroffen – und das, obwohl er selber halb blind wegen der Hitze des Feuers, welches im Dorf tobte, gewesen war.

Der Mann zog seine warme Tunika enger um seinen Körper, denn die Kälte und die Nässe des Regens schhienen schon durch seine schützende Kleidung zu gelangen. Die graue Tunika war ertwas ganz Besonderes – der Soldat hatte sie von seinem Vater bekommen, als dieser im Sterben lag.

„Diese Tunika hat mich mein ganzes Leben begleitet“, hatte sein Vater damals auf dem Sterbebett gesagt. „Sie hat mich vor allen Krankheiten bewahrt und soll nun für dich eine schützende Hülle sein. Möge dieses Kleidungsstück dir Glück bringen und den Krieg für dich zu einem guten Ende bringen!“

Den letzten Satz hatte der Soldat nie so richtig verstanden, aber er ehrte den Glücksbringer und schützte den Umhang wie sein eigenes Leben.

Inzwischen war die Nacht herein gebrochen und es wurde mit jeder Minute kälter.

Kein Mond und keine Sterne zeigten sich am verrauchten Himmel – die Wolkendecke war einfach viel zu dicht und unnachgiebig. Kein Licht erleuchtete diese dürstere Nacht. Keine Hoffnung in dieser dunklen Nacht.

Keinen Frieden in dieser kalten Nacht.

Dann flog etwas durch die Luft und zerriss die Wolkendecke; für ein paar Sekunden hörte es zu regnen auf – dann setzte der Regen wieder ein.

Der Mann blickte erschrocken auf, denn er hatte ebenfalls einen warmen Luftzog über seinen Kopf gefühlt, als irgend etwas an ihm vorbei geflogen war.

Er traute seinen Augen kaum: da flog ein einzelner Ichiak! Das Wesen war unglaublich schnell und kam offensichtlich aus der Richtung des zerstörten Dorfes.

Dies musste einer der Flüchtlinge sein, dachte der Soldat und er beschleunigte seinen Schritt. Dieses Mal sollte ihm das Wesen nicht entkommen, das schwor er sich. Noch immer konnte er das Wesen erkennen, doch es erschien inzwischen ganz verschwommen durch den Regen und die Rauchschwaden.

Dann war der Ichiak verschwunden.

Der Mann rannte immer weiter in die Richtung, in welche das geflügelte Wesen geflogen war. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht und Wasser drang in seine Stiefel. Es kümmerte ihn nicht. Er musste den Ichiak finden und beseitigen, bevor das Wesen Hilfe holen konnte. Die ganze Armee zählte auf seinen Einsatz, das wusste der Soldat. Wenn er den Ichiak nicht stoppen würde und dieser würde dann Verstärkung holen, dann wären alle Pläne der Rulusianer nichts mehr wert und sie hätten den Krieg verloren!

Also rannte er weiter. Immer weiter, bis er schließlich an eine hohe Felsformation gelangte, an welcher der Ichiak auf keinen Fall vorbei geflogen sein konnte. Nein, das geflügelte Wesen musste sich irgend wo zwischen den Felsspalten oder in den zahlreichen Löchern versteckt haben, da war sich der Mann absolut sicher.

Aber wohin konnte das Wesen sich nur zurückgezogen haben?

Der Soldat spähte durch die Nacht und erblickte eindlich ein Loch hoch oben in der Felsformation. Es schien eine Höhle zu sein, die von innen leicht erleuchtet war. In diesem Loch vermutete der Soldat sein geflohenes Opfer. Der Ichiak konnte sich nur in dieser Höhle versteckt haben. Jetzt saß das geflügelte Monser in der Falle!

Der Soldat befand sich nun direkt vor den schroffen Felsen, welche sich senkrecht in die Luft erhoben. Wie eine Wand, welche die Natur aus dem Boden geschaffen hatte, versperrten die Felsen den Weg.

Als der Mann das Gestein genauer betrachtete, fiel ihm auf, dass es eine Art Treppe gab, die zu der Höhle – dem Ziel seiner Jagd – hinauf führte. Diese Stufen schienen aber keineswegs künstlich hergestellt zu sein; es war vielmehr die Natur un kein Handwerker, die eine Treppe in den Fels gehauen hatte. Neben zahlreichen Einbuchtungen, Kerben und scharfen Felsspalten, gab es einige Felsvorsprünge, die man tatsächlich als Treppe benutzen konnte.

Der Soldat wagte den gefährlichen Aufstieg. Dies war keineswegs eine leichte Aufgabe, denn die Stufen waren von Regen und Moos schlüpfrig und glatt. Mehrmals musste der Mann sich an der Felswand festhalten, um nicht in die Tiefe zu stürzen.

Dann endlich zog er sein Schwert, als er sich den Eingang der Höhle näherte.

In dem Loch, welches wahrhaftig nicht sehr hoch und tief war, brannte ein kleines Feuer. Vermutlich hatte der Ichiak das Feuer entfacht, denn es war allgemein bekannt, dass diese Wesen Feuer speien konnten. Diese Tatsache rief den Soldaten plötzlich zur Vorsicht und hinter seinen Schild geduckt, betrat er langsam den Eingang der Höhle.

Hier vernahm er ein leises Stöhnen und das Scharren von Krallenfüßen, die über den Felsboden glitten. Dann sah er sein Opfer... ein hilfloses Ichiakweibchen.

Das Weibchen kauerte in der letzten Ecke der Höhle. Sie war nur mit ein paar Stoffetzen bekleidet und zitterte am ganzen Körper.

Der Soldat hob sein Schwert zum letzten Schlag – hier und jetzt sollte die Hetzjagd ein rasches Ende nehmen!

Doch bevor er den tödlichen Stoß ausführen konnte, erschütterte ein Wort seine Ohren:

„Gnade!“

Das Ichiakweibchen wiederholte seine Bitte mehrmals mit gebrochener Stimme. Tränen liefen über ihr faltiges Gesicht.

Plötzlich ließ der Soldat das Schwert sinken und stellte die Klinge an die Seite der Felswand. Seine Hände zitterten. Das Ichiakweibchen zitterte ebenfalls, obwohl sie direkt neben dem Lagerfeuer saß. Sie blickte ihn mit einem schwer zu deutenden Blick in die Augen.

Und er blickte in ihre Augen.

Auf einmal drang sein Blick durch die entsetzliche und für Menschen abstoßende Hülle dieses dämonischen Wesens hindurch... er sah nicht länger einen Dämon, nicht länger einen ichiak und auch nicht länger einen Todfeind.

Er sah eine Frau.

Vor ihm saß eine hilflose, ängstliche Frau. Er konnte sie nicht töten. Er wollte sie nicht töten. Nicht mehr, nachdem er in ihre Augen sah.

„Wie... ist dein Name?“, fragte der Soldat das Ichiakweibchen.

Sie zögerte einen Moment; unsicher, ob sie ihm trauen konnte. Dann sagte sie leise: „Ich heiße Yirrshka.“

„Das... ist ein schöner Name“, bekannte der Mann und versuchte zu lächeln. „Ich bin Andros, Sohn von Karleigh und komme aus Couvrant.“

Ein leichtes Lächeln zeichnete sich auf Yirrshka Gesicht ab; dann aber zuckte sie grässlich zusammen und hielt sich die schmerzende Seite und den Bauch.

„Was ist passiert?“, fragte Andros bestürzt. Er wusste nicht warum, aber aus irgend einem Grund war er plötzlich um dieses Wesen besorgt.

„Ich... bin verwundet“, stöhnte sie. „Ein Pfeil hat mich in der Seite und am Bauch getroffen. Ich konnte den Pfeil entfernen... aber die Wunde will nicht heilen.“

Andros schluckte. Nun verstand er... es war sein Pfeil gewesen, der dieses Wesen verwundet hatte. Damals wusste er nicht, dass es ein Weibchen war – aber es war ihm auch egal gewesen. Nur... wusste sie, dass er es war? Nein, sie konnte ihn unmöglich in dem Rauchschwaden des brennenden Dorfes erkannt haben. Oder doch...?

Wieder schrie das Ichiakweibchen auf und krümmte sich vor Schmerzen. Schnell ging Andros auf sie zu und fühlte nach der Wunde.

„Die Verletzung ist nicht so tief“, stellte er beruhigt fest. „Warte, das wird helfen!“

Andros riss ein paar Stofffetzen von seiner Tunika ab – seine wertvolle Tunike, welche er von seinem versrobenen Vater geerbt hatte. Die schmalen Streifen band er fachmännisch um die Seite und den Bauch des Ichiakweibchens, so dass die Wunde bald verschlossen war.

„Dies sollte die Heilung erleichtern“, sagte Andros und prüfte nochmals den Verband. „Ich denke, bis morgen ist alles wieder verheilt...“

„Warum hilfst du mir?“

Andros war verwirrt. Er wusste keine richtige Antwort auf diese Frage, aber sie hatte recht. Warum hatte er ihr geholfen?

„Du hättest mich kaltblütig töten können“, begann sie aufs Neue. „Ich war dir hilflos ausgeliefert. Warum...“

„Nun, aber du hättest mich auch mit einem Feuerstrahl rösten können“, konterte Andros leicht amüsiert, denn er hatte bemerkt, dass Yirrshka wieder lächelte. „Also hast auch du mich verschont, oder nicht? Und... ich töte keine hilflosen Frauen. Nicht einmal einen Feind! Ich bin für einen fairen Kampf... und nicht für Mord!“

„Wo liegt da der Unterschied?“, fragte Yirrshka weiter. Als der Mann aus Verlegenheit nichts erwiderte, sagte sie: „Es ist schon gut. Ich bin nicht dein Feind. Ich war es nie und wollte es auch nie sein. Gestern noch habe ich meine Kinder in den Schlaf gesungen... heute morgen fand ich sie ermordet vor.“

Andros fühlte sich plötzlich ganz elend. Er hatte viele Seiten des Krieges gesehen, aber den Schmerz, den eine Mutter über diesen Verlust ertragen musste, konnte er nicht begreifen.

„Der Verband ist gut“, meinte Yirrshka - wohl mehr, um das Schweigen zu brechen. „Ich... danke dir, Andros.“

War war mit ihm los, fragte sich der Soldat. War die ganze Welt auf einmal verkehrt? Was war aus seinen Idealen und Werten geworden? Was war aus seinem Auftrag geworden? War dieses Weses nun sein Feind, oder nicht?

Andros war es endlich leid, auf seine Vernunft zu hören – er lieferte sich ganz seinen Gefühlen aus und näherte sich dem Ichiakweibchen, das ihn so liebevoll und dankbar ansah. Er setzte sich still neben sie, hielt ihre Hand und...

dann küsste er sie.

Es war unglaublich!

Noch vor ein paar Stunden hätte er jede erdenkliche Strafe der Welt auf sich genommen, wenn er die schuppige, kalte Haut eines Ichiak nicht berühren müsste. Das einzige, mit dem er die ledrige Haut dieses Wesens bisher berühren wollte, war die scharfe Klinge seines Schwertes. Nun aber waren es seine feuchten Lippen, welche zärtlich über die glatte Haut von Yirrshka glitten.

Es war plötzlich alles so unwirklich und doch so real; zwei bis auf das Blut verfeindete Rassen kamen auf die friedlichste Art zusammen, die denkabr sein kann.

Andros küsste Yirrshka voller Leidenschaft. Seine Hände glitten über ihre glatte Haut und ertasteten sjeden verborgenen Winkel ihres Körpers. Sie erwiderte seine Liebkosungen und bebte vor Erregung. Schnell streiften beide ihre Kleider ab, die sie zum Schutz gegen Kälte und Feuchtigkeit jetzt nicht mehr benötigten.

Obgleich das Feuer in Höhle, welches inzwischen auf eine ärmliche Flamme zurückgebrannt war, sie nicht mehr länger wärmen konnte, fühlten die Liebenden keine Kälte; das innere Feuer der Liebe und Leidenschaft, das nun in ihren Herzen glühte und voller Ekstase zu brennen begann, erwärmte ihre Körper viel besser, als zehntausend Lagerfeuer.

Eng umschlugen berührten sich ihre nackten Körper und der Schweiß der Leidenschaft hielt sie zusammen, wie eine klebende Paste. Immer wieder vollzogen sie den Liebesakt und mit jedem Male schien sich die Lust aufs Neue zu entfachen.

So wie jeder weitere Stein, der - wenn ins Wasser geworfen - neue Wellen erzeugt, so stieg auch ihre Leidenschaft immer weiter an. Sie vergaßen die Welt und die Zeit um sich herum und ihre Körper lebten nur noch für einander, als sie schließlich den Höhepunkt erreichten.

Der Soldat und das Ichiakweibchen lagen immer noch eng umschlungen in der Höhle, als der nächste Morgen dämmerte. Der Regen hatte es inzwischen aufgegeben, das Land weiter zu ertränken und die ersten roten Sonnenstrahlen flogen über die öden Felder. Die Dorfbrände der letzten Kriegsnacht waren inzwischen gelöscht, aber ein Feuer loderte mit unnachgiebiger Beharrlichkeit weiter: das Feuer der Liebe, welches in Andros und Yirrshka entfacht worden war!

Der Mann schlug die Augen auf und blickte durch den Höhleneingang nach draußen in die Ferne. Noch immer lag er dicht an den Körper von Yirrshka gepresst; ihre großen Flügel bildeten eine pulsierende Decke um seinen Leib.

Die Ereignisse der letzten Tage riefen sich ihm ins Gedächtnis, als er über die toten Felder und verwüsteten Ebenen spähte. Noch immer konnte er die Rauchsäulen der Brände sehen – noch immer konnte er den Geruch von verbranntem Fleisch riechen und noch immer konnte er die Schreie der ermordeten Ichiak und seiner gefallenen Kameraden hören.

Wollte er in dieses Leben aus Leid und Verderben zurückkehren?

Andros sah sich um, als Yirrshka erwachte. Sein Blick traf ihre Augen und da wurde es ihm schlagartig bewusst...

sein früheres Leben – sein Krieg – war zu Ende. Sollte er trauern, oder sich freuen?

„Wie fühlst du dich?“, fragte Yirrshka, nachdem sie seinen verwirrten Blick aufnahm.

„Gut... denke ich“, zögerte er. „Ich habe mich gefragt...“

„Was nun werden soll?“, beendete sie den Satz für ihn. Andros nickte. Sie schlang ihre Arme um ihn und lächelte sanft.

„Es ist besser“, begann Yirrshka, „wenn wir gar nicht denken. Der gestrige Abend und die letzte Nacht haben bewiesen, dass es höhere Mächte als Vernunft, Berechenheit und Hass gibt.“

Andros nickte wieder. Er wusste, was Yirrshka meinte. Es war die Kraft der Liebe, die ihn vollkommen verändert und verzaubert hatte – die seinen Hass getilgt hatte, wie ein Schwamm Wasser aufnehmen konnte. Aber ein Rest Unsicherheit blieb...

„Aber... wie soll es jetzt weitergehen? Wie können wir in dieser Welt als Paar bestehen?“

„Wir lassen uns von der Liebe leiten - wir vertrauen voll und ganz auf ihre Kraft!“, sagte Yirrshka. Dann schmiegte sie ihr Gesicht an das des Mannes. „Und mit etwas Glück, wird die Welt vergessen, was Feindschaft und Hass ist - ebenso, wie wir vergessen haben. Das höchste Gut auf dieser Welt ist die Liebe. Es gibt sie, du musst nur daran glauben und die Augen öffnen! Und wäre die Liebe nur ein winziger Funke, so reicht er dennoch aus, um einen Waldbrand zu entfachen. Wir werden das Feuer nähren... unsere Liebe nähren... und schon bald - in ferner oder naher Zukunft - wird die ganze Welt verstehen, wie wir zu verstehen gelernt haben.“

Andros sah sie mit strahlenden Augen an. Die düstere Zukunft der Welt schien sich plötzlich zu lichten und ihm wurde ganz warm um sein Herz.

Als er und Yirrshka so dicht zusammen saßen, schlugen ihre zwei Herzen im gleichen Takt. Und endlich begriff er auch, was sein Vater damals mit seinem letzten Satz über die Tunika gemeint hatte... das Kleidungsstück hatte die Feindschaft tatsächlich beendet!

„Ich... verstehe“, sagte Andros schließlich. „Ich verstehe es endlich... das Geheimnis der Liebe!“